Montag, 10. September 2007

Mehr innere Handlung

Dass ich gesagt habe, dass es keinen Anlass fuer einen Kulturschock gibt, war vielleicht etwas vorschnell. Man muss ihn nur etwas suchen. Die Rahmenbedingungen sind tatsaechlich erstaunlich aehnlich. Es stimmt zum Beispiel, dass mein Praktikum auch so in Deutschland stattfinden koennte. (Fuer die Nichtbayer_innen: Stellt euch vor, ihr wuerdet ein Praktikum im Sueden des Landes machen, dann kaeme auch das mit der Sprache hin:-) Gerade sind wir dabei eine Forschungsfrage zu entwickeln, anhand derer wird dann methodisch qualitativ eine Untersuchung durchfuehren. (Fuer die Nichtakademiker_innen: Man braucht erstmal eine genaue Frage oder These, um weitere Fragen stellen zu koennen. Beispielsweise wird unsere Forschungsfrage vielleicht lauten: Haben aeltere Frauen in Chile eine andere Vorstellung von politischer Partizipation als juengere Frauen? Danach kann man die Frauen zum Beispiel fragen, ob sie sich vorstellen koennen, politisch aktiv zu sein und wenn ja, wo. Eher in Posten, die Aussichten auf Machtpositionen garantieren, oder eher in regionalen Bewegungen, die sich auf die Verbesserung der eigenen Umwelt beschraenken. Achja und qualitative Methoden sind nicht ganz so langweilig, wie quantitative.)

Vielleicht ist "Kulturschock" auch die falsche Kategorie. Irgendwie klingt das so nach "meine Kultur ist die normale und die anderen sind alle komisch". Das trifft es aber nicht. Es sind halt andere Lebenshintergruende und andere Sachen sind "normal". Ein Beispiel aus dem feministischen Leben hier: Gestern Abend gab es ein langes Gespraech in der Kueche. Hauptsaechlich haben Dominique und Carmen (nicht ich, meine Chefin) geredet. Wobei Carmen etwas muetterlich versucht hat, Dominique zu erklaeren, dass sie ihr Leben mal ein bisschen ordnen muesste. Dabei war ein grosses Thema, die Benutzung von Kondomen. Im Gegensatz zu One-Night-Stands sind die hier naemlich nicht ueblich. Carmen hat also im Verlaufe des Gespraechs versucht, ein Bewusstsein fuer die Probleme zu schaffen und Dominique eingebleut, dass sie auch "nein" sagen darf, wenn der Typ kein Kondom benutzen will.
Das ist hier echt so ne Sache. Alle Leute, die etwas alternativer sind, lehnen die guten alten romantischen Zweierbeziehungen ab, oder ueberbruecken die Zeit bis zur naechsten. Dabei sind die Maenner aber die "Eroberer" und die Frauen die "Beute". Das Schema ist festgelegt und als Frau bist du entweder nicht alternativ oder komisch, wenn du da nicht mitmachst. Dass fuehrt im uebrigen auch dazu, dass sich die Frauen hier wirklich rechtfertigen muessen, wenn sie nicht wollen. "Willst du mit mir kommen?" - "Nein." - "Warum nicht?" - "Hab keine Lust." - "Warum hast du keine Lust?" Und so weiter.

Andererseits hatten die beiden bei dem Gespraech gestern Abend keinerlei Probleme damit auch Faktoren wie Sternzeichen und Schicksal mit einzubeziehen. Das hab ich naemlich auch schon gelernt hier: Wahrsagen, Sternzeichen, Kartenlegen, Sachen auspendeln wird hier, halb im Spass, halb im Ernst betrieben. Irgendwann muss ich mir auch mal die Zukunft voraussagen lassen.

Und noch ein Paradebeispiel zum Thema konstruierte Realitaeten: In den ersten Wochen hier, hab ich mich gefuehlt und anscheinend auch verhalten, als waere ich gerade mal 16 Jahre alt. Ich haette mich vielleicht wirklich besser auf diese Reise vorbereiten sollen, so hab ich halt auf die praktische Art erfahren, was man hier machen kann und was besser nicht. Weil ich aber nicht wusste, was hier "normal" ist und was mich in ernste Schwierigkeiten bringen kann, war ich bei allem hypervorsichtig und habe ich mich gefuehlt, als braeuchte ich fuer alles Hilfe. Es war etwas einschuechternd, dass die Individualdistanz hier geringer ist, weswegen alle Menschen physisch so nah sind. Ausserdem konnte ich im ersten Monat wirklich wenig sprechen. Jedenfalls war ich unsicher und hab wohl auch falsche Signale gesendet. Denn es ist unwahrscheinlich, wie anders sich Menschen verhalten, wenn man sich selbst anders verhaelt. Ich weiss, dass ich jetzt selbstbewusster auftrete. Dementsprechend versuchen Leute nicht mehr die Verantwortung fuer mich zu uebernehmen. Das heisst, Dominique laesst mich auch mal Sachen alleine machen, Carmen spricht mehr mit mir (und mehr wie mit einer Erwachsenen) und die Machos rufen mir nicht mehr auf der Strasse hinterher, dass ich herzlich eingeladen bin, mit ihnen zu kommen. Konstruktivismus hautnah: Du konstruierst dir deine Realitaet, die von den anderen Menschen bestaetig wird, weil sie auf dich reagieren.

So, jetzt hab ich aber genuegend rumphilosophiert. Die Erkenntnisse sind wohl auch nicht die neusten, aber spannend, wenn man das selbst erfaehrt.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Also bis jetzt hab ich hier noch nichts reingeschrieben, weil ich dir ja eh Mails schreibe, aber jetzt muss ich einfach mal meinen Senft dazu geben.
Deine Berichte sind echt interessant und dass es in jedem Land anders zugeht und andere Sitten und Gebräuche herrschen ist mir ja nichts Neues, aber wenn ich lesen muss wie "freizügig" dort viele Menschen mit ihrem Liebesleben umgehen und dabei so wenig auf Schutz geachtet wird, wird mir ganz schlecht. Ich kann nur sagen, dass Aids eine furchtbare Krankheit ist, die nicht nur den Körper sondern auch die Familie, die Freunde, die Arbeit, einfach Alles systematisch zerstört und auffrisst. Da ich sowas bei einem Familienmitglied miterleben muss (der sich nebenbei bemerkt zum Glück nicht unterkriegen lässt), kann ich nur hoffen, dass du dort vielleicht auch zu diesem Thema etwas erreichen kannst, auch wenns nur eine Person ist, die du möglicherweise überzeugst. Ich weiß du hast viel zu tun, aber vielleicht findest du die Zeit ein wenig Aufklärung zu leisten. Möglicherweise wäre das ja auch ein Anstoß für ein zukünftiges Projekt (da würd ich meinen faulen Hintern sogar auch mal hoch kriegen); den Kontakt zu Leuten in der Aids-forschung könnte ich über eine Freundin knüpfen... So, das war jetz aber genug, lass dich nicht unterkriegen! Lulu

Anonym hat gesagt…

Ich bin ja ganz entzückt deinen Bericht zu lesen und kann nur Wort für Wort bestätigen was du schreibst. Die anfängliche Unsicherheit und wie die Leute auf einen reagieren, das habe ich so ähnlich (Rollenbild des Mannes ist ja noch ein anderes) erlebt. Klingt nun aber so als wärst du über die ersten Schwierigkeiten hinweg, ab jetzt wird es richtig spannend.

als denn mil besos

Raphael