Montag, 17. November 2008

The Worlds Largest Cannon on Wheels! In Jaipur!

New Delhi Railway Station! Alle paar Meter zupft jemand an meinem Ärmel und will mich in Richtung eines Reisebüros lotsen, wo ich zwar keine billigen Tickets bekomme, aber der Geschäftswerber dafür Kommission. Nach einem Monat Indien ignoriere ich das natürlich und durchschreite die leicht nach Urin riechende Bahnhofshalle, in der ein paar hundert Leute auf dem Boden sitzen oder liegen und auf ihre Züge warten. Im ersten Stock gibt es den Sonderservice für Touristen. Man füllt einen einseitigen Antrag für die Bürokratie aus (beim ersten Mal muss ich ein paar mal nachfragen, so leicht durchschaue ich den Wisch nicht) und bekommt - gegen Vorzeigen des Reisepasses - Plätze im Zug unter der tourist quota.

Eine Bekannte und ich wollen nach Jaipur, und da unser Zug um 6:05 Uhr morgens abfährt und zu der Zeit kaum Tuktuks auf den Straßen fahren, habe ich mir eine Taxi-Rufnummer besorgt. Dann der erste Lacher um 4:30 Uhr morgens: Der Taxi-Mensch bietet mir am Telefon einen Fixpreis von 600 Rupien. Das ist mal unverschämt, also lache ich den Typen an, lehne das Angebot ab und gucke etwas verzweifelt auf der Straße, ob nicht doch ein Tuktuk vorbeifährt. Tatsächlich habe ich Glück und kann einen Fahrer ranwinken, der bei 300 Rupien zu handeln anfängt. Weit und breit keine Konkurrenz, da lässt er sich nicht weit drücken. 220 Rupien kostet die Fahrt, bei Tag hätte es bis zu 100 gekostet. Noch ein Vergleich: Das (schwer staatlich subventionierte) Zugticket nach Jaipur kostet pro Person 500 Rupien.

Im Zug ins etwa 250 km entfernte Jaipur dann jede Menge Service. Pro Waggon sind zwei Leute zuständig, den Passagieren Wasser, Tee, Kaffe, mehrere Schübe Snacks und Essen zu bringen und abzuräumen. Es läuft die indische Version von Fahrstuhlmusik aus blechern klingenden Lautsprechern und beim Ein- und Aussteigen kann man sich über die indische Gedränge-Taktik wundern: Jeder geht die Richtung seines Ziels ohne irgendwelche Rücksicht auf Andere zu nehmen. Survival of the fittest, aber es funktioniert - niemand erbost sich über Andere oder kommt am Ende nicht auf seinem Platz an.

Meine Lieblingsaktion: Ich stehe im engen Gang des Zuges und komme gerade nicht vorwärts - man kennt das ja, vor einem steht ein Knäuel von Menschen, die versuchen, ihre Koffer in die Deckenablage zu hieven. Die Frau hinter mir greift mit dem linken Arm an mir vorbei und fasst an den Sitz vor mir, wie um sich im nächsten Moment mit reiner Bizeps-Kraft an mir vorbeizuzwängen. Da das wenig erfolgsversprechend ist, hat sie folgerichtig noch die Alternativstrategie, mir mit rechts ihre Reisetasche im Sekundentakt in die Unterschenkel zu bommern. Aber wie gesagt, das ist hier normal und keine böse Absicht. Kein Grund, sich aufzuregen. Man versucht einfach, selbstfixiert seine Sache durchzuziehen und ist keinem Mitmenschen böse, wenn der einem beim gleichen Versuch in den personal space hineinragt.

Reichlich vollgestopft kommen wir nach etwa sechs Stunden in Jaipur an, erwehren uns der üblichen Taxifahrer- und Geschäftswerberplagen und kaufen schonmal unsere Rücktickets. Dabei schön mit dem üblichen, bürokratischen Formular in einer Schlange vor einem Sonderschalter für tourists, senior citizens, freedom fighters, journalists und disabled persons stehen, in dem gerade Mittagspause gemacht wird.

Der Jaipur-Aufenthalt wird von der Hostelsuche eingeleitet. Wir bemerken eine Faustregel: Wer mit seiner Absteige im Lonely Planet steht, erhöht daraufhin gerne erstmal seine Zimmerpreise um den Faktor 20. Wir landen letztlich in einer geradezu pittoresken Hinterhof-Absteige, in deren Park Pfaue rumlatschen! Gut, es gab keine Bettdecken (hätten wir die am Empfang einfordern müssen? - man weiß es nicht) und es gab den üblichen Schmutz, der in Backpackerführern schon klischeemäßig überall festgestellt wird. Aber der Preis war einigermaßen in Ordnung. Und in weiser Voraussicht habe ich eine Klopapierrolle dabei - in Jaipur findet man das westliche System mit dem Klopapier nicht durchgehend, stattdessen gibt es den kleinen Wasserhahn mit Eimerchen neben der Toilette.

Von Jaipur sehen wir an diesem Tag vor allem den Basar, eine kilometerlange Reihe von jeweils etwa drei Meter breiten Ladenfronten - es müssen hunderte sein. In jedem zweiten der Läden springen die Verkäufer beim Anblick eines nahenden Europäers auf, stellen sich einem in den Weg und beginnen ein Verkaufsgespräch, dabei immer schön ein "No" sowie alles andere ignorierend. Sehr nervig schon nach kurzer Zeit, verkaufen sie doch alle für meine ungeübten Augen den gleichen, bis ins I-Tüpfelchen identischen Tand. Entweder Schmuck oder Lederschuhe oder Stoffe/Kleidung. Flieht man vom Bürgersteig auf die Straße, landet man bei den Rikschafahrern, die anhalten und sich für eine Fahrt aufdrängen. Und sich ebenfalls von Ablehnung nicht beeindrucken lassen und weiter fragen, als würde man sich dadurch dann plötzlich umentscheiden und doch irgendwo hin fahren wollen.

An fast jedem Eingang zu einer Seitenstraße sind einige Urinalbuchten in die Häuser eingebaut, bei denen man immer beiläufig den Männern beim Pinkeln zugucken darf. Dementsprechend riecht es dort auch (Luft anhalten!). Als kleiner Einschub: Pissende Männer sind auch in Delhi alltäglich, es wird einfach am Strassenrand angehalten und der nächsten Mauer zugewandt. Wo keine Mauer ist, kann man aber auch Pech haben: Am Delhi-Bahnhof hatten wir das unerfreuliche Erlebnis, dass sich jemand vor der großen Menge der am Bahnhof wartenden Tuktukfahrern abwandte, um in Richtung der Zufahrtsstraße zu pinkeln, auf der wir gerade einfuhren.

Abends noch ein Kinobesuch: Ein Bollywood-Film auf Hindi mit viel Gesang und Tanz. Die weibliche Hauptperson leidet ganz fürchterlich unter den Resultaten ihres stock-konservativen Entscheidungsmusters - hauptsächlich indem sie jahrzehntelang (!) nicht mit ihrer großen Liebe zusammen kommt, weil dessen Mutter das nicht will oder sie für ihre Geschwister dasein muss oder sowas. Das demonstrative und melodramatische Leiden dieser Frau geht nicht etwa der Umgebung auf die Nerven, nein, alle lieben und verehren sie dafür; letztlich bekehrt sie ihre Umgebung sogar zur heilen Welt des Patriarchats und für ihre demonstrative Spaß- und Lebensfeindlichkeit kriegt sie das Happy End, doch noch den Traumprinzen heiraten zu dürfen, weil die zulässige Autorität (Mutter des Bräutigams) es der inzwischen ungefähr 40jährigen für ihre konsequente Selbstverleugnung erlaubt. Schrecklich, aber die anderen Besucher finden es gut. Als das Paar zum ersten Mal schüchtern Händchen hält, braust eine Welle des Jubels durchs Kino.

Einschub: Nacktheit ist im indischen Fernsehen und Kino nicht erlaubt, sogar Ansätze wie die Klempner-Falte werden großflächig verpixelt. In indischen Filmen wird auch nicht geküsst, stattdessen bewegt sich der Mund des Mannes immer undefiniert Richtung Hals der Frau, woraufhin die ekstatisch guckt. Kommen in ausländischen Filmen Küsse vor, zoomt der indische Nach-Zensor digital von der Bildmitte weg, man sieht dann keine sich berührenden Lippen mehr, sondern nur noch sich bewegende Haaransätze.

Am nächsten Tag latschen wir durch ein paar Paläste, für die Jaipur berühmt ist. Der City Palace verlangt 300 Rupien von foreign visitors, also schleichen wir uns lieber aus Versehen durch den Hintereingang des Palast-Cafes ein (HA!). Im gift shop gibt es das unschlagbar suggestive T-Shirt mit der Aufschrift "Worlds Largest Cannon on Wheels!" und Kanonen-Foto leider nicht mehr.

Die Paläste sind Prunkbauten und deutlich schöner als die bisher angegafften Sehenswürdigkeiten in Delhi. Der Palast der Winde war eigentlich nur für die Frauen des Herrscherhofes gebaut, durch kleine Fenster in der Fassade konnten die ansonsten von der Umwelt fern gehaltenen Frauen das Treiben der Stadt beobachten.

Die Paläste sind weitläufig und leer, am Eingang gibt es jeweils Ballungen von den Nepp-Spezialisten, die sich durch Touris finanzieren und aufdringlich-rücksichtslos an einen heranschwärmen: Guides, Rikschafahrer, Bettelkinder. Sehr nervig auf die Dauer. Auch noch schön: vor dem City Palace werden in einem Vorhof jede Menge Nuss-Sorten und sonstiges Knabberzeugs offen verkauft, gleichzeitig beherbergt der Hof aus irgendeinem Grund so um die tausend Tauben, die immer mal wieder über diesen offenen Nuss-Behältnissen schwärmen. Mir kann niemand erzählen, dass da nicht dauernd Exkrement in den Nüssen landet... zwischendrin wohnen dort auch noch ein paar Ziegen, aber davon sehe ich ja schon ab.

Die Rückfahrt am zweiten Tag ist dann wieder unspektakulär, wenn man den Trubel schonmal mitgemacht hat: Viel Essen, viel Gedränge, people with a different concept of personal space. Highlight noch in Jaipur: Ein Rikschafahrer quatscht mich am Bahnhof ungefragt an ("Hello, Friend! Where are you from?" - immer die gleichen Sprüche) und gibt irgendwelche Tipps. Er wird natürlich von mir ignoriert und fragt dann gespielt beleidigt "Why are you so suspicious?" - "Because I've been in India for a month". Das hat er eingesehen.

Spätabends in Delhi angekommen dann eine halbe Stunde Verhandlungen mit Tuktukfahrern, die nicht bereit sind, Europäern einen vernünftigen Preis zu machen. Normal...

Ein schöner Trip! Es gab viel zu erleben und an der für Ausländer allgegenwärtigen Nervigkeit der Umstände ist mir vor allem aufgefallen, wie leicht ich inzwischen damit umgehen kann. Wat will man mehr?

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